Zwschwkuuuschtschschschmlsssch – Reden als bedrohte Kulturtechnik
Der Erwerb der elementaren Kulturtechniken in der Schule umfasst traditionell Lesen, Schreiben und Rechnen. Im Vergleich dazu werden andere kulturspezifische Fähigkeiten wie Sich-kleiden, Sich-orientieren, Sich-präsentieren, Gestalten oder Raum-nutzen immer bereits vorausgesetzt: sei es, sie würden in der Familie erlernt werden oder sich ohnehin quasi naturwüchsig aus den SchülerInnen heraus entwickeln (das vor allem, wenn man der jeweiligen Fähigkeit eine kreative Anmutung beizugeben versucht).
Eine Ausnahme bildet die Fähigkeit zu reden. Nun beginnen die meisten Kinder in der Tat zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr, sich mit ihrer Umgebung sprechend auszutauschen. Man könnte sagen, auch Sprechen-lernen brauchen Kinder in Bildungseinrichtungen nicht mehr, diesbezüglich kämen sich bereits voll ausgebildet in die Schule. Das Problem – siehe die bildungspolitische Diskussion zum Erwerb der Unterrichtssprache Deutsch – läge bestenfalls darin, sie die richtige Sprache nutzen zu lassen.
Schule als Ort des Einübens ins Nicht-sprechen?
Entlang dieser Einschätzung verstand sich Schule lange Zeit nicht als Ort des Sprechen-lernens sondern des Nicht-sprechen-lernens. Meiner Erinnerung an die eigene Schulzeit folgend erschöpften sich diesbezügliche Aufforderungen der Lehrer auf: „Du sollst nur sprechen, wenn du gefragt wirst“. Und meine Präsenz als Schüler bestand im Wesentlichen in der Fähigkeit, möglichst ruhig dazusitzen und den interessierten Zuhörer zu mimen. Reden sollte ich nur auf ausdrückliche Aufforderung des Lehrers, vor allem bei Prüfungen, um das eigene Sprechen für eine Wiedergabe des vom Lehrer vermittelten Wissens zu nutzen. Alle anderen sprachlichen Äußerungen sollten tunlichst unterbleiben und wurden gegebenenfalls sanktioniert.
Womit wir beim „Schwätzen“ wären, interpretierbar sowohl als Disziplinlosigkeit als auch subversive Form des Widerstands gegenüber einem hierarchischen Schulsystem, das den LehrerInnen die uneingeschränkte Macht zuweist, zu sprechen während die SchülerInnen auf eine stumme Rolle festgelegt werden, aus der herauszutreten es der Aufforderung der Autorität bedarf, die Sprecherlaubnis gibt.
Für eine solche Organisationsform des Sprechens lassen sich durchaus rationale Gründe anführen, ohne gleich in eine Fundamentalkritik des Herrschaftssystems Schule fallen zu müssen. Und es fallen uns eine Menge Gründe ein wie: „Immerhin würde niemand etwas verstehen, wenn alle gleichzeitig sprächen. Darüber hinaus muss ja einer für Ordnung sorgen und ohne (von den LehrerInnen garantierte) Disziplin geht gar nichts.“
Das Gespräch als kulturelle Errungenschaft
Die kulturelle Leistung bestünde darin, die jahrelange Verinnerlichung dieser Form der einseitigen Abhängigkeit (der Lehrer/die Lehrerin als Autorität verfügt über das Entscheidungsmonopol zu sprechen bzw. sprechen zu lassen) zu überwinden und sukzessiv zu einer interdependenten Haltung weiterzuentwickeln. Diese nennen wir gemeinhin Gespräch, im Rahmen dessen die TeilnehmerInnen einander auf Augenhöhe begegnen und laufend zwischen den Rollen als Sprechende und Zuhörende changieren. Sie machen damit das Sprechen zu einem lebendigen, ja durchaus lustvollen Miteinander, bei dem die Sprechenden aufeinander neugierig sind, einander erfahren, aufeinander eingehen, sich ergänzen und entlang der Dynamik des Verlaufs entscheiden, ob das Gespräch im Moment ihrer Einlassung bedarf oder gerade nicht.
Diese Fähigkeit ist eine Voraussetzung zur Schaffung von Öffentlichkeit und damit eine herausragende kulturelle Errungenschaft (und als solche Gegenstand kultureller und politischer Bildung). Nicht umsonst galt das Gespräch in Form der „Konversation“ schon einmal als eine eigene Kunstform, an die zuletzt Chantal Thomas in ihrem Buch „L‘ esprit de conversation“ entlang konkreter Beispiele in Gestalt berühmter Salonbetreiberinnen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts erinnert hat – inklusive einiger Anleitungen, welche Qualitäten man/frau als eine gute KonversationspartnerIn mitbringen sollte.
Sprechen als Ausdruck eines massenhaft grassierenden Egozentrismus
Vom Olymp der Zusammenkünfte eines aufstrebenden französischen, auf lustvolle intellektuelle Auseinandersetzung setzenden Mittelstandes schnurstracks in eine Wiener Saunakammer. Eine solche galt, jedenfalls bis vor kurzem, gemeinhin als ein Ruheraum, in dem nicht gesprochen wird. Verbale Äußerungen beschränkten sich in der Regel auf Ankündigungen wie „Aufguss bitte!“ allenfalls noch – wenn ein solcher erfolgte – auf Ausrufen wie „Ahhh“ oder „Ohh“.
Zuletzt aber fiel mir auf, dass der Sprechbedarf in diesem rituellen Setting dramatisch steigt. Es sind vor allem Paare (gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts), die einfach nicht zu reden aufhören können. In der Regel erzählen sie sich irgendwelche Geschichten aus dem Alltag: „Dann hat der gesagt, …und dann hab ich den angerufen, und morgen mach ich…“. Bei dieser als durchaus schamlos zu bezeichnenden Veröffentlichung zum Teil intimer Details fühle ich mich in keiner Weise eingeladen teilzunehmen. Stattdessen mutiere ich – ob ich will oder nicht – zu einem passiven Zuhörer und kann diese Rolle nur ablegen, wenn ich den Raum verlasse. Oder die offensichtlich akut an Loggorhoe Leidenden ersuche, sich zumindest in der Lautstärke zurückzunehmen mit der Konsequenz, dann mit unverständlichen, um nichts weniger lästigen Zischlauten à la „zwschwkuuuschtschschschmlsssch“ konfrontiert zu werden. (Zum Zwitschern hier das entsprechende Produkt).
Dieses haltlose Mitteilungsbedürfnis ähnelt stark den zunehmend dominant werdenden Nutzungsgewohnheiten mobiler Fernsprechgeräte (auch wenn die Bezeichnung „handy“ es suggeriert, die Hand ist dabei nicht das entscheidende Körperteil. Stattdessen rege ich die Bezeichnung „mouthy“ an). Ihren NutzerInnen scheint die Wahrnehmung abhandengekommen zu sein, dass sie nicht allein auf der Welt sind. Sie agieren als zumindest partielle AutistInnen, die nicht mehr in der Lage (oder willens) sind, sich in Öffentlichkeiten als Teil eben dieser zu begreifen.
Zu bestaunen gibt es folglich Sprechende, die es fertig bringen, sich zusammen mit dem digital verbundenen Gesprächspartner als Nabel der Welt zu konstituieren; eine Eigenschaft, die es offenbar erlaubt, den sie umgebenden Rest der Welt für nicht existent zu erklären. Als solche ergehen sie sich z.B. in Zügen – für den ganzen Waggon hörbar und trotzdem ohne jeden Genierer – in den Details ihres Ehedramas oder sie schalten als Passagiere auf der Busfahrt vom Flugzeug zum Gate – jeder für sich – ihre digitalen Nabelschnüre ein, um wem auch immer mitzuteilen, dass „wir jetzt gerade gelandet sind“ (eine Sachverhaltsdarstellung, die den anderen Mitreisenden wohl sonst entgangen wäre).
Sowohl die unkontrollierten Schwätzer in der Sauna als auch die haltlos der digitalen Kommunikation frönenden, ansonsten weltlosen Zugreisenden deuten auf einen Qualitätsverlust von Öffentlichkeit hin. Ihre besonderen Merkmale beruhen auf der Außerkraftsetzung einvernehmlicher Verkehrsformen, die bislang die Voraussetzung dafür waren, dass eine solche Öffentlichkeit zustande kommen konnte. Vergessen sind die wechselseitige Kenntnisnahme, Respekt und Höflichkeit, wenn es darum geht, Reden, Hören und Schweigen in ein stimmiges Verhältnis zu bringen; alles Qualitäten, die schon einmal zur kulturellen Grundausstattung gehört haben.
Und so taucht die Frage auf, ob hier eine kulturelle Vereinbarung gerade zu einem Zeitpunkt droht, gebrochen zu werden, zu dem uns die aktuelle Medienrevolution eine schier unerschöpfliche Vervielfältigung von Sprechmöglichkeiten eröffnet, und diese doch dazu führen, das öffentlich Verbindende des Redens zu unterminieren. Man muss in dem Zusammenhang nicht gleich in ein Bedauern über den Stand gesellschaftlicher Entsolidarisierung ausbrechen; eine Konsequenz falsch verstandener Individualisierung ist dieses neue egozentrisch gerichtete Sprechverhaltens allemal.
„SAG’S MULTI!“ im vierten Jahr
Vielleicht ein guter Kontrapunkt, an dieser Stelle auf den Redewettbewerb „SAG´S MULTI!“ hinzuweisen, der in diesen Tagen zum Thema „Meine Zukunft – Unsere Zukunft“ stattfindet. Mehr als 400 SchülerInnen mit sogenanntem migrantischem Hintergrund nehmen diesmal an der Ausscheidung teil. Vorrangiges Ziel der Initiative, die vom Verein „Wirtschaft für Integration“ zusammen mit EDUCUT ausgerichtet wird, ist es, das Gefühl bei den jungen Menschen zu stärken, dass die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen, eine besondere Qualität und eine Stärke und nicht – wie sie es oft erfahren müssen – eine Schwäche darstellt.
Die Aufgabe im Rahmen dieses Wettbewerbes ist es, vor ein Publikum zu treten und eine Rede zu halten. Eine Rede halten ist etwas anderes als Sprechen. Es ist die Fähigkeit, sich mit einem Thema zu beschäftigen, es in Sprache (in diesem Fall sogar in zumindest zwei Sprachen) zu fassen und dann auch noch das Ergebnis anderen Menschen mitzuteilen.
Eine besondere Schwierigkeit liegt wohl darin, dass sich die gestellten Themen nicht in der Befassung mit scheinbar neutralen Sachverhalten erschöpfen. Der Inhalt – in diesem Jahr „Meine Zukunft – Unsere Zukunft“ – hat viel mit den jungen Menschen selbst zu tun. Es geht nicht um den Nachweis von erworbenem Wissen, es geht um sie selbst, um ihre Vorstellungen von Zusammenleben in der Welt. Und so bleibt den TeilnehmerInnen bei der Vorbereitung gar nichts anderes übrig, als zumindest für Momente aus sich selbst herauszutreten, sich selbst zu beobachten und über sich selbst nachzudenken. Damit nicht genug, wollen die dadurch gewonnenen Erfahrungen jetzt auch noch in eine Form gebracht werden, von der die TeilnehmerInnen hoffen können, dass sie auf das Interesse und das Gefallen des Publikums (und der Jury) stoßen.
Über das Was und das Wie
In ihren Präsentationen machen viele der jungen Menschen unmittelbar deutlich, wie untrennbar Inhalt und Form, damit das „Was-gesagt-wird“ und das „Wie-es-gesagt-wird“ aufeinander verwiesen sind. Ja, sie reden über sich. Aber nicht für sich. Stattdessen wenden sie sich an ein Publikum, zu dem sie ein Verhältnis finden müssen, das sie einbeziehen, auf das sie sich einlassen müssen, wollen sie nicht nur gehört, sondern auch verstanden werden.
Überraschend viele Jugendlichen bringen dafür ein hohes Maß an Empathie mit. Sie wissen, dass sie nicht allein auf der Welt sind (und so auch nicht auf der Bühne). Für sie ist es ganz selbstverständlich, nicht nur etwas zu sagen sondern darüber hinaus ein Miteinander zu schaffen, das erst die Grundlage dafür bildet, dass die Rede die ZuhörerInnen erreicht.
Als solche sind sie die erfreulichen VertreterInnen einer neuen VermittlerInnen-Generation, die „et-was“ über sich und ihre ganz konkreten Lebensumstände zu erzählen haben, die aber auch wissen, wie man dieses „et-was“ erzählt. Für mich sind sie der lebende Beweis, wie wichtig es ist, Reden in allen Bildungseinrichtungen als eine dem Lesen, Schreiben und Rechnen gleichwertige Kulturtechnik (gerade vor dem Hintergrund zusammenbrechender Öffentlichkeiten) zu verhandeln. Und nicht bloß darauf zu achten, das nicht geredet wird.
Der Hinweis auf die laufende Aktion ist eine gute Gelegenheit, den teilnehmenden SchülerInnen, LehrerInnen und allen anderen Involvierten meine große Anerkennung für die erbrachten (und noch zu erwartenden) Leistungen auszusprechen. Danke auch an den Verein „Wirtschaft für Integration“, der den Wettbewerb trägt und ermöglicht und, ganz persönlich – Dank an meine Kolleginnen Sanem Altinyildiz und Barbara Semmler, die auch in diesem Jahr mithelfen, dass der Wettbewerb reiblungslos abläuft.
Wir laden Sie herzlich ein, sich eine der noch kommenden Veranstaltungen anzusehen. Sie werden es nicht bereuen.
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